Cover
Titel
Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt


Autor(en)
Uekötter, Frank
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
837 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone M. Müller, Rachel Carson Center for Environment and Society, München

Im Strudel. Eine Umweltgeschichte der modernen Welt ist ein ebenso wichtiges wie gewichtiges Werk für eine Zeit, in der Klimawandel, Artensterben, Bodenerosion und Umweltverschmutzung zusammen mit sich zuspitzenden Umweltprotestformen Gesellschaften und Regierungen auf der ganzen Welt vor fundamentale Herausforderungen stellen. Ohne Zweifel gehört die ökologische Herausforderung zu den Schlüsselfragen des 21. Jahrhunderts. Frank Uekötter, der wohl produktivste deutsche Umwelthistoriker, erklärt in Im Strudel eindrücklich und profund, welche diversen historischen Entwicklungslinien zu unserer heutigen Situation einer planetaren Krise führen konnten. In bewundernswerter Breite nimmt dieses Buch seine Leser:innen mit auf eine atemraubende Reise vom Opernhaus Manaus, finanziert durch den Kautschukboom der Amazonasregion, zur industrialisierten Fleischverwertung in den Schlachthöfen von Chicago und von der Ausrottung des Dodos, eines pummeligen, flugunfähigen Vogels aus dem heutigen Mauritius zur deutschen Autobahn und dem „Endsieg des Automobilismus“ (S. 513). Wenn auch eine Verdichtung um Agrarthemen den derzeitigen Forschungsschwerpunkt des Autors verrät, so zeigt Uekötter doch eindrücklich seine Versiertheit in einer globalen, wenn auch noch stark transatlantisch geprägten Forschungslandschaft zur Weltumweltgeschichte der Moderne.1

Im Strudel ist im Wesentlichen thematisch und weniger chronologisch angelegt, und obgleich das Buch die gesamte Spanne der Moderne von 1500 bis 1970 umfasst, ergibt sich, durchaus beabsichtigt, „eine gewisse Schieflage zugunsten der Gegenwart“ (S. 671). Das Buch beginnt im ersten von acht Teilen mit Grundsätzlichem – Ressourcen, Infrastruktur und Müllentsorgung – und erarbeitet sich so entlang der Wertschöpfungskette einen ersten Blick auf den Hauptgegenstand des Buches: die Komplexität ökologischer Themen als Teil des Gesamtprozesses der Ressourcenallokation selbst. Weiter geht es mit Betrachtungen zu diversen Aneignungsprozessen, darunter die Einführung des Prinzips des Landbesitzes oder die krakenhafte Ausdehnung multinationaler Unternehmen wie United Fruit in alle Bereiche der Ressourcenextraktion, der Verarbeitung und des Verkaufs. Es folgt eine Diskussion zur Unumkehrbarkeit, etwa anhand der Einführung einer giftigen 2-Kilo-Kröte in fremde Ökosysteme in Australien, technologischer Dependenz bei der Einführung der Klimaanlage und Errata der Weltgeschichte – darunter Pandemien, Erdbeben und sogar der Massentourismus – die den Lauf der Weltgeschichte auf unerwartete Art und Weise verändert haben. In seinen letzten drei Teilen stärker im 20. Jahrhundert verhaftet, endet Im Strudel mit einem Durchmarsch durch so gewichtige Themen wie stille Reserven und die Grenzen des Wachstums, Hobsbawms Katastrophenzeitalter und die ökologischen Auswirkungen des totalen Kriegs, sowie der ‚großen Beschleunigung‘ seit den 1950er-Jahren. Es ist eine turbulente Reise über den ganzen Erdball, die Leser:innen des Buches schon nach dem ersten Kapitel mit der Gewissheit ausstattet, dass es kompliziert ist.

Für eine breitere Öffentlichkeit in eingängiger, mit feiner Ironie und Humor gewürzter Sprache geschrieben, ist Im Strudel kein Buch, das mit einfachen Erklärungen oder gar Lösungsansätzen aufwartet; ganz im Gegenteil. Entstanden aus einer „Unzufriedenheit mit Weltgeschichten, die einen Geist von Ordnung verströmen“ (S. 14), hinterfragt es etablierte narrative Logiken und Erklärungsmuster unserer heutigen Umweltkatastrophe, an deren Ende meist der Kapitalismus als Übeltäter steht. Für Im Strudel entwickelt Uekötter eine Argumentation weiter, die er bereits 2011 in seinem Buch Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert stark gemacht hat: Wir leben auf einem komplizierten Planeten und im Gegensatz zu den Anfängen der Umweltbewegung der 1970er-Jahre sind schwarz-weiß Narrative von Täter und Opfer heute nicht mehr haltbar.2 Die in Im Strudel beschriebene Moderne ist demnach das „kumulative Ergebnis ganz unterschiedlicher Bauunternehmen mit verschiedenen Plänen, die nichts voneinander wussten. Viele Lernkurven führten von der Euphorie zur Aporie, und sie haben uns mit Unsicherheiten und ungelösten Spannungen zurückgelassen, die wir auf eigenes Risiko ignorieren“ (S. 14). Auch in der Grundstruktur des Buches fügt sich der Autor nur widerwillig traditionellen Vorgaben einer Kapitelreihenfolge. Jede:r Leser:in, so die Aufforderung Uekötters, soll von eigenen Interessen geleitet einen Weg durch das Buch finden, welcher von Zucker und Landbesitz über die Brotfrucht und Guano der Landwirtschaft folgen kann oder vom Canal du Midi, der Klimaanlage der Autobahn und dem Torrey Canyon der Infrastruktur. Die Reihenfolge ist (fast) beliebig und zahlreiche Querverweise erleichtern ein hüpfendes Leseverhalten, das bislang eher online als offline zu finden war. Trotz dieser eingebauten Abkürzungen lohnt es sich, das Buch in seiner Gesamtheit zu konsumieren.

Am Ende einer schwindelerregenden, knapp 700 Seiten langen Lesereise durch den mächtigen Strom der (Weltumwelt-)Geschichte nagt allerdings noch immer die Frage nach Kausalität und Handlungsmacht, nach dem Verhältnis von Ereignis und Struktur und letztendlich nach der Triebfeder des Uekötter’schen Schreibens. Die Bedeutung dieser Frage ist nicht nur im Licht von Debatten zu sehen, ob bei derartigen Monumentalwerken wie Im Strudel oder ähnlichen zum Ersten Weltkrieg oder der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert nach mehreren hundert Seiten eine pointierte These übrigbleibt.3 Ähnlich wie bei Jürgen Osterhammels Verwandlung der Welt, die sich in „konsekutiver Umkreisung“ dem 19. Jahrhundert nähert, geht es auch bei Uekötter um die Geschichtsschreibung selbst.4 Und so ist Im Strudel Uekötters Antwort auf das, was er eine „Krise der historischen Narration im 21. Jahrhundert“ nennt, in der Formen einer narrativ-analytischen Auflösung an ihr Ende gekommen sind. In Rückgriff auf Niklas Luhmanns These, es gebe keine einheitliche Gesellschaft, sondern nur miteinander agierende (und divergierende) Subsysteme (S. 616), stellt Uekötter Prozesse von Ambivalenz, Verwerfungen, (unbedachte) Nebenfolgen sowie sich stets überlagernde narrative Stränge einer historischen Tradition der linearen (und chronologischen) Narration als eine unserer „Patchwork-Moderne“ (S. 630) angemessenere Alternative gegenüber. Entfaltet in einem knapp 50-seitigen methodischen Teil am Ende des Buches, besteht die Bedeutung und Provokation von Im Strudel für die Geschichtswissenschaft in der Erklärung eines Endes der Linearität als „Erwachsenenversion der Märchenstunde“ (S. 615). (Umwelt-)Geschichte im 21. Jahrhundert muss sich der sich überlagernden und widersprüchlichen Realitäten eines komplizierten Planeten stellen.

Wer nun allerdings eine neue Zeitrechnung eines Wilden Westen historischen Schreibens basierend auf anything goes befürchtet, hat sich in die Irre führen lassen. Trotz des proklamierten Endes der Meisternarrative gibt es auch bei Uekötter Leitmotive. Deren wichtigstes ist die Wirkmacht der Geschichte selbst, sind doch ökologische Debatten der Gegenwart, wie Uekötter eindrücklich zeigt, fundamental geprägt von historischen Ereignissen, Entscheidungen und, eingedenk von Müll, Verschmutzung oder der Arteneinfuhr in fremde Ökosysteme, historischen Hinterlassenschaften. Und auch ein Strudel folgt Gesetzen und Logiken. Die wichtigsten Leitplanken des Uekötterschen Strudels sind die beiden miteinander verwobenen Prozesse der „Großen Externalisierung“ und des „Großen Aussiebens“ (S. 618), beispielsweise bei der Auslagerung der Entsorgung giftiger Abfallstoffe vom Globalen Norden in den Globalen Süden, beim Abwracken alter Containerschiffe in Chittagong bei gleichzeitig zunehmender Regulierung der damit verbundenen umweltschädigenden Prozesse. Im damit verbundenen „schrumpfenden Manövrierspielraum“ (S. 629) menschlicher Gesellschaften bei gleichzeitiger Invokation eines historischen Erfahrungsschatzes und dem Mut zum Wandel finden sich in Im Strudel zuletzt doch die klassischen narrativen Elemente der Umweltgeschichte von Warnung und Hoffnung. Zurecht. Im Strudel ist ein überaus kluges und lesenswertes Buch, das für interessierte Leser:innen jeglicher Couleur einen Zugang bietet, während es auf subversive Art fundamentale Fragen an die Geschichtswissenschaft und die Gesellschaften der Moderne stellt.

Anmerkungen:
1 Wichtig in diesem Kontext ist die Forderung von Nancy Langston, Dolly Jørgensen und anderen zur Dekolonisation des umwelthistorischen Kanons bei stärkerer Beachtung der Werke von Frauen und People of Color. Dazu Nancy Langston/ Dolly Jørgensen et al., The Syllabus Project: https://thesyllabusproject.weebly.com.
2 Frank Uekötter, Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2011.
3 Michael Wildt: Rezension zu: Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, In: H-Soz-Kult, 22.09.2014, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-20865>.
4 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2008.